18.02.2014 – Kategorie: Branchen, Hardware & IT

Bauen Aktuell: Günter Wenzel, Fraunhofer IAO, über virtuelle Technologien im Bauwesen

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Bauen aktuell: Vor welchen Herausforderungen steht das Bauwesen heute, wenn es um die Anwendung von virtuellen Technologien geht?

Günter Wenzel: Der Begriff „Virtuelle Techniken“ (VT) umfasst Prozesse, Software und Hardware für die Erstellung, Nutzung und Präsentation virtueller Prototypen im gesamten Lebenszyklus eines Bauwerks, also in allen Phasen von der Projektentwicklung, der Planung, der Ausführung, der Inbetriebnahme, der Nutzung, der Umnutzung bis zum Rückbau von ganzen Regionen, Städten, Quartieren, Gebäuden und Interieur. Zentrale Herausforderung ist hierbei ein durchgängiges und vor allem räumliches Stammdatenmodell.

Neben der bekannten interaktiven Darstellung von 3D-Inhalten auf 2D-Displays umfassen VT aber auch erlebnisorientierte Kommunikationstechnologien, immersive Technologien, die ein „Eintauchen“ in virtuelle Welten ermöglichen. Je nach Einsatz spricht man von Virtual Reality (VR – der Betrachter in einer rein virtuellen Umgebung), Mixed Reality (MR – reale Teilelemente in VR-Umgebungen) oder Augmented Reality (AR – Einblenden virtueller Teile in den realen Raum). Der Einsatz dieser immersiven Technologien bringt weitere oder strengere Herausforderungen hinsichtlich der Datenqualität mit sich:

  • Vollständigkeit: die Freiheit, jeden Standpunkt im Raum einnehmen zu können, setzt voraus, dass nicht nur Ausschnitte (wie bei Filmen oder Renderings), sondern alle Planungen in durchgängig guter 3D-Qualität vorliegen;
  • Immersion: ein ruckelfreies, fließendes Erleben (freie Navigation, Tracking) auch komplexer Planungen setzt echtzeittaugliche 3D-Daten voraus oder Prozesse, die die Stammdaten automatisiert in solche konvertieren.

Aus Prozess-Sicht lassen sich weitere Herausforderungen ableiten:

  • zum Beispiel, dass die geforderte „Verfügbarkeit zu jeder Zeit“ Daten verlangt, die stets aktuell sind;
  • oder dass der hohe Erlebnisfaktor beim Betrachter eine differenzierte Repräsentation der Planungsreife nötig macht; 
  • oder dass der Einsatz VT in allen Lebensphasen eines Bauwerks klare Daten-Schnittstellen zwischen den wechselnden Verantwortlichen ohne Informationsverluste bedingt.

Diese Liste ließe sich noch sehr lange fortsetzen. Am VDC Fellbach (http://www.vdc-fellbach.de) bildet sich gerade ein „Arbeitskreis Architektur und Bau“ der sich genau dieser Fragestellungen annehmen wird.

Bauen aktuell: Warum haben sich virtuelle Technologien in der Baubranche noch nicht in dem Maße eingebürgert, wie beispielsweise in der Automobilindustrie?

Günter Wenzel: Im Automobilbau finden wir klar definierte Prozesse vor, die in gut eingespielten Planungsteams mit gleichen oder gut aufeinander abgestimmten Planungstools für die Entwicklung von Serienprodukten ablaufen. Seit Einführung von 3D-CAD wird dort tatsächlich durchgängig in 3D geplant. In der Baubranche sieht das ganz anders aus. Hier formiert sich mit jedem Bauvorhaben ein neues Planungsteam, das sich hinsichtlich des Datenaustauschs auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigt und damit ein Unikat, das Bauwerk, entwickelt. Die eingangs genannten Anforderungen beim Einsatz VT fallen diesem Umstand erfahrungsgemäß leider als erstes zum Opfer. Aber selbst wenn hierfür eine Lösung gefunden wird, gibt es im Bauwesen immer noch Hürden, die außerhalb des Einflussbereichs der Projektbeteiligten liegen. Ich denke dabei beispielsweise an die Themen „Ausschreibungsverfahren“, „Honorarverordnung“ oder „Gewährleistungsproblematik“. Diese sind unserer Erfahrung nach viel stärkere Hemmnisse als die Prozessmodellierung oder die Technologie.

Günter Wenzel vom Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO, Competence Center Virtual Environments: „Der Einsatz zur Unterstützung von Planungs- Ausführungs- und Facility Management ist vor allem dann ökonomisch, wenn VT durchgängig und fachübergreifend in allen Phasen genutzt werden.“

Bauen aktuell: Wo sehen Sie derzeit die Haupttriebkräfte für ihren Einsatz?

Günter Wenzel: Unsere Städte und unsere Gebäude werden immer komplexer und verlangen in damit einhergehend zunehmendem Maß nach einer integrierten Kommunikationsplattform. Dies gilt sowohl für die Experten (Planungs- und Ausführungsqualität) als auch für Bauherren und Auftraggeber, die als Laien trotz wachsender Komplexität verständliche Informationen als Grundlage für ihre Entscheidungen benötigen (Entscheidungssicherheit). Und dann kommt dazu auch eine interessierte Öffentlichkeit, die zu Recht informiert sein will (Bürgerinformation) und sich einbringen möchte (Partizipation).

In einer virtuellen Baubegehung hat der Betrachter die freie Wahl des Standpunkts und erlebt Raum fast so, als wäre er schon gebaut: das ermöglicht selbst Laien, sich eine eigene Meinung zu bilden und schafft somit die Grundlage für eine zielgerichtete, fundierte Diskussion und Entscheidung.

Bauen aktuell: In welchen Phasen eines Bauprojekts würden Sie virtuelle Technologien besonders empfehlen?

Günter Wenzel:  Der Einsatz zur Unterstützung von Planungs-, Ausführungs- und Facility Management ist vor allem dann ökonomisch, wenn VT durchgängig und fachübergreifend in allen Phasen genutzt werden. Einmal erstellte Daten können dadurch vielfach Wertschöpfung generieren und bleiben im Sinne eines nachhaltigen Wissensmanagements auch verfügbar. Erlebnisorientierte VT wie VR, AR, MR bieten sich vorzugsweise bei der Entscheidungsfindung in komplexen Fragestellungen an. Gerade beim Thema Bürgerinformation (man denke an die anstehenden Großprojekte beim Infrastrukturausbau für die Energiewende) und bei der Einbindung von Akteuren und Nutzern in den Planungsprozess (Partizipation) sehe ich die Kernanwendungsfelder. Der Einsatz von VT birgt hier ein hohes und noch unerschlossenes Optimierungspotenzial.

Bauen aktuell: Inwiefern kann hier das Fraunhofer IAO die Baubeteiligten unterstützen?

Günter Wenzel: Mehr als 20 Jahre Erfahrung mit VT (Betrieb einer Vielzahl eigener VR-Labore), die von Anfang an laufende Entwicklung einer eigenen VR-Software-Plattform sowie die intensive branchenbezogene Erfahrung ermöglichen dem Fraunhofer IAO eine einzigartige, ganzheitliche Sicht beim Einsatz von VT im Bauwesen. Wir analysieren die Ausgangssituation in Projekten oder Unternehmen und schneidern dazu passend und unabhängig ein Konzept für eine stufenweise Einführung oder eine singuläre Nutzung. Wir unterstützen bei der Planung und Umsetzung und entwickeln maßgeschneiderte Softwareprodukte. Die enge Kooperation mit Verbänden, die Einbindung in Forschungsnetzwerke und nicht zuletzt die für uns inzwischen ganz alltägliche konkrete Projektarbeit im Bauwesen bilden das dazu nötige Fundament.

Bauen aktuell: Können Sie uns hierfür ein Beispiel nennen?

Günter Wenzel: Ein für uns wegweisendes Projekt war die Planung unseres eigenen Institutsneubaus, dem Zentrum für Virtuelles Engineering ZVE. Dabei wollten wir uns als Bauherren UND als Forscher mit unseren Erfahrungen einbringen. Als Bauherren, um unsere Entscheidungen hinsichtlich der Nutzungsqualität besser absichern zu können. Als Forscher, um bestehende Methoden im Virtual Engineering auf das Bauwesen zu übertragen. Wir haben daher von der ersten Skizze an einen immersiven Gebäudeprototypen – aus unterschiedlichsten Datenquellen gespeist – selbst erstellt und in einem, mit der Zeit immer automatisierter ablaufenden Verfahren gepflegt und ausgebaut. Die Planungsrunde traf sich zum Jour Fixe stets in einem unserer VR-Labore, um dort sowohl mit den bekannten Medien (Papierplan, 2D-Präsentation) als auch am Gebäudeprototyp die anstehenden Fragestellungen zu besprechen. Unsere Architekten und Fachplaner nutzten dieses Angebot sehr intensiv und bestätigen den Zusammenhang zwischen der herausragenden Qualität des fertigen Gebäudes und dieser Planungs-Methode. Die dadurch gewonnenen Erkenntnisse konnten wir in vielen folgenden Projekten, wie beispielsweise beim Neubau des Headquarters von ThyssenKrupp in Essen, bei der wir der ThyssenKrupp Real Estate eine Powerwall im Planungsraum eingerichtet und die Prozesse so aufgesetzt haben, dass Virtuelle Baubegehungen zu jedem Planungsstand möglich waren. Nachdem wir das ZVE im Juni letzten Jahres bezogen haben, befassen wir uns mit den Möglichkeiten, den Gebäudeprototypen im Facility Management zu nutzen. Wir setzen uns nun auch verstärkt dafür ein, die bislang von den Bauherren getriebene virtuelle Baubegehung auch für Behörden, Planer und am Bau und Betrieb beteiligte Akteure attraktiv zu machen.

Bauen aktuell: Was bedeutet der Einsatz zum Beispiel von immersiven Umgebungen bei der Planung für die Architekten, wie wird sich ihr Workflow dadurch ändern?

Günter Wenzel: Gerade in kleinen Büros – dazu zählt bekanntermaßen ein Großteil der Architekturbüros in Deutschland – ist eine durchgängige 3D-Planung eine Grundvoraussetzung für den Einsatz immersiver Techniken. Wir gehen davon aus, dass die Konvertierung von Planungs- zu Visualisierungsdaten zeitnah automatisiert möglich ist und erwarten somit keine großen Änderungen am 3D-Planungsworkflow. An welchen Stellen man im Prozess dann immersive Technologien einsetzt, sollte jedoch bewusst gewählt und genau definiert sein. Die Frage, WAS wird WEM zu welchem Zeitpunkt mit welchen Mitteln kommuniziert, wird sehr stark Einfluss auf die Arbeitsabläufe des Architekten haben.

Bauen aktuell:  In kleineren Projekten ist durchgängiges Building Information Modeling noch nicht selbstverständlich. Ist es dort überhaupt sinnvoll, an virtuelle Technologien zu denken?

Günter Wenzel: Bereits heute können VT, wenn nicht durchgängig, so doch an bestimmten Prozesspunkten wertschöpfend eingesetzt werden. Wenn ich alleine an die vielen Architekturbüros denke, die neben den CAD-Planungen extra ein SketchUp-Modell für Visualisierungsaufgaben pflegen, dann ist das beispielsweise schon eine sehr gute Daten-Ausgangslage für eine virtuelle Baubegehung mit dem Bauherren. Das Equipment dafür steht möglicherweise ja bereits ungenutzt in Form von 3D-tauglichen TV-Geräten im Besprechungsraum.

Bauen aktuell: Wer sollte in einem Bauprojekt für die Organisation und Verwaltung der 3D-Visualisierungsdaten zuständig sein?

Günter Wenzel: Das ist eine sehr gute Frage! Was die 3D-Visualisierungsdaten betrifft, so gehe ich davon aus, dass wir bald soweit sind, dass diese direkt aus den Projekt-Stammdaten abgeleitet werden. Die Verwaltung und Organisation dieser integrierten Daten sollte meiner Meinung nach dann auch bei dem liegen, der das Zusammenspiel der funktionalen, technischen, wirtschaftlichen und gestalterischen Qualität des Bauwerks steuert: das ist die klassische Rolle des Architekten. Vielleicht sucht er sich dann ja Unterstützung bei einem neuen Berufsstand: dem „Baudaten-Dienstleister“. Diese Leistung könnte auch ein Projektsteuerer in sein Portfolio aufnehmen. Mit Interesse verfolgen wir auch die Entwicklung der treibenden Rolle der Baufirmen bei der Einführung von BIM in der Ausführungsplanung. Es ist gut möglich, dass diese ihren Vorsprung nutzen, um nicht nur die Ausführung des Gebäudes, sondern auch die des Gebäudeprototypen zu übernehmen.

Bauen aktuell: In letzter Zeit machen einige Großprojekte von sich reden, die den Kosten- und Zeitrahmen deutlich überschreiten. Inwiefern könnten bessere Visualisierungsmöglichkeiten hier Abhilfe schaffen?

Günter Wenzel: Wenn wir es schaffen, mit erlebnisorientierten Visualisierungstechnologien die Kommunikation mit der Öffentlichkeit so zu verbessern, dass von Anfang an die Planung und ihre komplexen Wirkungszusammenhänge verständlich vermittelt werden, so könnten wir auf jeden Fall den Kosten- und Zeitaufwand minimieren, der durch die zermürbende Konfrontation verhärteter Standpunkte entsteht. Die Potentiale im Bereich der Planungsunterstützung, für das Logistikmanagement oder gar im Facility Management lassen sich auf Grund mangelnder Erfahrung in Großprojekten noch nicht genau umreißen.

Bauen aktuell: Welchen Stellenwert werden virtuelle Technologien Ihrer Meinung nach in der Baubranche in zwei bis drei Jahren einnehmen?

Günter Wenzel: Die Zahl der Projekte, bei denen VT partiell eingesetzt werden, wird stetig zunehmen. Eine breite und durchgängige Nutzung wird sich in diesem vergleichsweise kurzen Zeitraum aber noch nicht durchsetzen. Langfristig wird sich der Einsatz von VT fest etablieren: eng gebunden an die Einführung von BIM und getrieben durch die dringlichen Herausforderungen, vor die unsere Gesellschaft das Bauwesen stellt.

 Bauen aktuell: Herr Wenzel, vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Andreas Müller 


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