27.10.2021 – Kategorie: Komponenten & Systeme
Neigungswinkel überwachen: Mehr Sicherheit bei Schwertransporten
Schwertransporte mit überdimensionalen Lasten erfordern eine komplexe Planung und Logistik, um gut und sicher durchgeführt werden zu können.
Neigungswinkel: Es gibt Schwertransporte und es gibt gigantische Schwertransporte. Zur letzten Kategorie zählt der Transport eines riesigen Wärmetauschers, den die Firma Baumann im Oktober 2020 durchführte. Das Unternehmen ist Experte für überdimensionale Spezialtransporte, die nur wenige Firmen in Deutschland anbieten.
Vom Neigungswinkel bis zu Baustellen
Wenn Reinhard Treutler, CAD-Techniker bei Baumann, gefragt wird, worauf es bei einem Schwertransport dieses Ausmaßes ankommt, lautet seine Antwort: „Das kann man eigentlich gar nicht erklären. Es gibt unfassbar viele Dinge zu bedenken.“ Jeder Transport erfordert umfassende Planungsprozesse, die einen großen zeitlichen Vorlauf haben. Zunächst müssen alle Parameter der Ladung geprüft werden, Größe, Gewicht, Höhe und Länge, dann wird die Konstruktion des benötigten Fahrzeugs ausgearbeitet, und schließlich folgen die Recherchen zur passenden Strecke. Letzteres ist komplex, da bestimmte Straßen und Brücken für Ladungsgewicht und -höhe ungeeignet sein können, oder Kurven zu eng, um mit dem überlangen Fahrzeug zu passieren.
„Wenn wir dann mittels eines modernen 3D-Scanfahrzeugs eine Strecke festgelegt haben, kann es sein, dass die Behörden dennoch kein grünes Licht geben, weil sich zum Beispiel Baustellen auf der Strecke befinden, Brücken nicht tragfähig sind oder Ähnliches. Dann muss umgeplant und teilweise auch das Ladegut verändert werden“, so Reinhard Treutler.
Hoher Schwerpunkt
Die besondere Herausforderung bei sehr großen und schweren Gütern ist der hohe Schwerpunkt der Ladung, der die Kippgefahr des ganzen Fahrzeugs erhöht. In diesem Fall lag der Schwerpunkt der Ladung 3,80 Meter über dem Auflieger des Modulfahrzeugs bei einem Gewicht von 324 Tonnen. Es gilt bei solchen Spezialtransporten, den Neigungswinkel der Ladung über den gesamten Transportzeitraum kontinuierlich zu überwachen und bei Bedarf hydraulisch gegenzusteuern, wenn der Neigungswinkel einen zuvor definierten Bereich überschreitet.
Bei weniger kritischen Transporten setzt das Unternehmen für die Neigungswinkelüberwachung ein Pendel ein, das zusammen mit einer Skala an der Ladung befestigt wird. Bei einem zu hohen Ausschlag kann der Bediener der hydraulischen Anlage die Neigung der Ladung während der Fahrt korrigieren. Bei einem Schwertransport mit diesen Dimensionen war die Pendelvariante jedoch zu unpräzise, da es sich um einen sehr engen Grenzbereich handelte, in dem die Neigung vom Nullpunkt abweichen durfte.
Bild 3 (rechts): Bei der Planung der Streckenführung ist angesichts des überlangen und breiten Zuges viel zu beachten, wie die Tragfähigkeit und Höhe von Brücken oder die Passierbarkeit von Kurven und Steigungen.
Bilder: Viktor Baumann GmbH & Co. KG
Elektronische Überwachungslösung für den Neigungswinkel
Um einen sicheren Transport zu gewährleisten, dachte Reinhard Treutler an eine elektronische Messlösung für den Neigungswinkel und trat mit dieser Anforderung an die Firma Althen heran. Bis dato existierte kein passendes Messgerät, sodass projektbezogen eine neue Messlösung entwickelt wurde. Holger Piscator, Leiter Entwicklung und Fertigung bei Althen, beschreibt die Entwicklungsarbeit: „Zunächst mussten die Anforderungen an das System bezüglich Messbereich, Messgenauigkeit und Art der Visualisierung geklärt werden. Im Anschluss haben wir das Ganze technisch realisiert, ein passendes Neigungssensorelement ausgewählt, die geeignete Elektronik dazu, sowie die Software inklusive Messsignalfilterung entwickelt. Alles wurde individuell für die vorliegende Applikation umgesetzt; wir konnten nicht auf fertige Lösungen zurückgreifen.“
Das Ergebnis ist das MTMS, ein mobiles Messsystem zur Überwachung des Neigungswinkels. Es besteht aus einer Messeinheit mit Sensor in einem robusten Aluminium-Druckgussgehäuse und einer zugehörigen lichtstarken LED-Großanzeige, die aus bis zu 20 Meter Entfernung sehr gut ablesbar ist. Sie verfügt zudem über eine automatische Helligkeitsanpassung und ist so auch bei Tageslicht gut zu erkennen. Ausgelegt ist das Messsystem für die Erfassung einer quasi-statischen Neigungswinkeländerung eines zu überwachenden Messobjekts. Der Messbereich umfasst +/- 10 Grad in Bezug zur Horizontalen; ein sehr enger Bereich, da bei kritischen Transporten mit hohem Gewicht und Schwerpunkt schon wenige Grad Neigung eine Überschreitung des Kipppunkts bedeuten können.
Leicht ablesbare LED-Balkenanzeige
Um die Gefahr stets einfach und exakt einschätzen zu können, hat Althen in Abstimmung mit Baumann neben der numerischen Darstellung eine farbig abgestufte LED-Balkenanzeige gewählt, die dem Bediener sofort eine Überschreitung des Grenzbereichs signalisiert. Holger Piscator erläutert: „Anders als die numerische Anzeige sind die Balken auf einen Blick zu interpretieren, gerade wenn die Neigung über einen längeren Zeitraum überwacht werden und der Bediener permanent den Betriebszustand einschätzen muss. Werden die Grenzwerte optimal eingehalten, leuchten grüne Balken; wechselt die Anzeige auf Gelb, gilt ein Voralarm, bei dem der Bediener reagieren und bereits hydraulisch gegensteuern kann. Rote Balken sind schließlich der kritische Bereich.“ Zudem wurde von der Firma Baumann ein akustisches Horn-Signal ergänzt, das ebenfalls ertönt, wenn die Grenzwerte überschritten werden. Auch an der Sensormesseinheit selbst befinden sich zwei rote Kontrolllampen, die den Betriebszustand ebenfalls anzeigen.
Das Messsystem ist sowohl einfach an der jeweiligen Ladung zu montieren als auch zu programmieren. Die Nulllage des zu transportierenden Objekts kann in einem geschützten Bedienermenü abgespeichert werden; so kennt der Sensor seine während der Fahrt zu haltende Position. Zusätzlich lassen sich zwei Grenzwertschaltpunkte programmieren. Sie markieren den kritischen Neigungsbereich, in dem sich die Ladung bewegen darf, bevor der Kipppunkt erreicht ist. Diese jeweiligen Grenzwerte hängen von vielen Faktoren ab, wie Reinhard Treutler weiß: „Für jedes Objekt muss individuell der Grenzwert ermittelt werden. Dieser ist abhängig von der Größe, dem Gewicht, der Höhe des Schwerpunkts, dem eingesetzten Fahrzeug, der Verbindung Fahrzeug und Ladung und einigen Faktoren mehr. Dazu setzen wir eine Software ein, die diesen Kipp- oder Überlastwinkel, also die Maximalneigung errechnet.“ Tatsächlich konnte dank der Anzeige während des viertägigen Transports konsequent innerhalb des grünen Messbereichs hydraulisch nachjustiert werden.
Das Neigungsmesssystem wird mit einem Kalibrierzertifikat ausgeliefert, für das Althen auch die regelmäßige Re-Kalibrierung anbietet. Das Produktportfolio von Althen umfasst zudem zahlreiche Messwertaufnehmer, Sensoren und Messverstärker, die ebenfalls in derlei Spezialfahrzeugen zum Einsatz kommen können. So messen zum Beispiel Druckaufnehmer den Hydraulikdruck, Kraftaufnehmer überwachen Belastungen an kritischen Stellen und Datenlogger ermöglichen die Dokumentation verschiedener Messgrößen während des gesamten Transports.
Novum in der Branche
Bei Spezial-Schwertransporten stellt das elektronische Neigungswinkel-Messsystem ein Novum dar, das mehr Sicherheit bei Überführungen dieser Größenordnung bedeutet. Sowohl das Kundenunternehmen, das den Wärmetauscher-Transport beauftragt hat, als auch die Mitarbeiter und Bediener der Firma Baumann ziehen ein positives Fazit; Reinhard Treutler: „Unsere Mitarbeiter haben bei der Ankunft gesagt: ‚Wir fahren nicht mehr anders, nur noch mit diesem System.‘ Auch in der Kundenberatung merken wir, dass diese zusätzliche Sicherheitsfunktion verstanden wird und sehr gut ankommt. Für uns ist wichtig, dass wir uns als Firma und insbesondere unsere Mitarbeiter sich gut und sicher mit dieser Lösung fühlen. Also kommt bei uns bei kippgefährdeten Transporten mit hohem Schwerpunkt und großer Last nur noch das Neigungswinkel-Messsystem von Althen zum Einsatz.“
Von Holger Piscator.
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