15.12.2020 – Kategorie: Architektur & Bau
Rückenwind für intelligente Städte: Digitaler Zwilling für die Infrastrukturplanung
Städte nachhaltiger und resilienter zu machen, steht ganz oben auf der Agenda vieler Planungsbehörden. Wie das mit vernetzten Daten noch besser funktioniert und was digitale Zwillinge in der Planung leisten, erklärt Dr. Richard J. Vestner, Senior Director, Digital Solutions, Bentley Systems.
Dr. Richard J. Vestner, Bentley Systems, im Gespräch: Rückenwind für intelligente Städte.
AUTOCAD & Inventor Magazin (ACM): Wie haben Sie die diesjährige Intergeo in dieser neuen Form erlebt?
Dr. Richard J. Vestner: Wir haben uns alle bereits der neuen Situation angepasst, weil wir die digitalen Formate schon seit einem halben Jahr zunehmend gesehen und erlebt haben. Allerdings fehlt uns das Unmittelbare – vom Handshake bis zur direkten Ansprache. Trotzdem sind wir zufrieden mit der Besucherfrequenz und mit den Fragen. Gut war, dass wir die Teilnehmer über eine Art Kontaktliste identifizieren und kontaktieren können. Das ist einfacher als der bloße Austausch von Business-Karten. Die 1:1-Gespräche sind weniger geworden, aber wir sind inzwischen auf die digitalen Formate eingestellt. Insofern hat es funktioniert, und wir können ein positives Resümee ziehen.
ACM: Stichwort Intelligente Städte: Welche Entwicklungen und Trends sind Ihnen besonders aufgefallen?
Dr. Richard J. Vestner: Städte, Kommunen, aber auch Firmen müssen wegen der Pandemie derzeit darauf achten, einen reibungslosen Betrieb aufrechtzuerhalten. Bei einigen privaten Unternehmen geht es schlicht ums Überleben und das wird sich wohl auch im Investitionsverhalten zeigen. Und trotzdem glaube ich, dass die Digitalisierung öffentlich und privat durch die Pandemie noch einmal mehr Rückenwind erfährt und dass auch gerade wir als Unternehmen davon profitieren können.
Ich sehe einen Umschwung bei den Investitionen durch die Digitalisierung auch Technologien anzuwenden, die wir anbieten, wie den digitalen Zwilling. Ein grundsätzlicher Trend ist, dass gerade die Kommunen mehr digitale Dienstleistungen im Sinne des Bürgers und der Nachhaltigkeit anbieten. Und wenn wir über Daten sprechen, dann geht es auch darum, mehr zu verknüpfen und mehr Transparenz zu schaffen.
ACM: Welche Produkte und Lösungen hat Bentley Systems in den Vordergrund gerückt?
Dr. Richard J. Vestner: Einerseits gibt es schon seit einigen Jahren einen starken Push zum Thema vernetzte Daten, Connected Data Environment (CDE). Wir stellen diese Datenumgebung als Grundtechnologie auf eine Plattform. Sie gewährleistet Offenheit, Transparenz und Vernetzung. Das Zweite sind die konkreten Anwendungen im Sinne des digitalen Zwillings. In dem Zusammenhang haben wir auch auf der ‚Year in Infrastructure 2020‘-Konferenz im Oktober sehr eindrücklich dargestellt, dass ein digitaler Zwilling nicht nur ein Modell ist, sondern eine ganze Familie von vernetzten Modellen, die weitergehende und vorausschauende Analysen zulassen.
Auf der Intergeo sind wir stark im Bereich OpenCities Planner aktiv gewesen und mit OpenGround Cloud bringen wir den digitalen Zwilling auch in den Untergrund. Orbit 3DM wurde als neues Tool zum Produkt vorgestellt. Das ist alles im Kontext zu sehen mit der Nutzung einer vernetzen Datenumgebung, die wir iTwin-Plattform nennen und die mehr aus versteckten Daten herausholt.
ACM: Wie sehen intelligente Städte aus und welche Stadt kommt diesem Ideal nahe?
Dr. Richard J. Vestner: Es gibt da einige Beispiele. Auf unserer jährlichen YII-Awards-Preisverleihung hat Helsinki den ersten Preis gewonnen. Die Stadt arbeitet schon seit rund 25 Jahren mit Bentley Systems zusammen und verwendet hier die gesamte Palette unserer Plattformen und Applikationen.
Intelligente Städte sind sollen digitalen Zwilling nutzen
Allgemeiner ausgedrückt, ist eine intelligente Stadt für mich die, die mit einem 3D-Realitätsmodell anfängt und dann darin die für sie wesentlichen Datenquellen in Echtzeit verknüpft und daraus im Sinne ihrer Hauptziele den digitalen Zwilling nutzt. Hier geht es darum, Bürger einzubinden und Planungsprozesse transparent zu machen, aber auch um Nachhaltigkeit. Denn wir befassen uns in der Stadt- und Infrastrukturplanung konkret mit fünf der UN-Nachhaltigkeitsziele. Gerade die Städte, die ihre Bürger einbinden und zum Beispiel ambitionierte CO2-Ziele umsetzen, sind schon relativ weit. Dazu zählen beispielsweise Helsinki, Dublin und Porto.
ACM: Die Partnerschaft mit Microsoft wurde ausgebaut. Was verspricht sich Bentley Systems von der Zusammenarbeit?
Dr. Richard J. Vestner: Der Ausbau unserer Partnerschaft mit Microsoft wurde auf der ‚Year in Infrastructure‘ Konferenz nochmals bestätigt. Es geht in erster Linie um die Weiterentwicklung unserer gemeinsamen Angebote für intelligente Städte und Stadtplanun, sowie intelligentes Bauen. Dies betrifft insbesondere Azure IoT Digital Twins und Azure Maps von Microsoft, die jetzt zügig mit unserer iTwins-Plattform vernetzt werden. Die Cloud Services sollen gerade in der Stadtplanung, der Infrastrukturplanung, beim Bauen und im Betrieb die verschiedenen Datenquellen miteinander verknüpfen. Microsoft ist dafür ein idealer Partner, zumal es in der Cloud nahezu keine Leistungsgrenzen gibt. Uns geht es also um technologische Unterstützung.
Bei Microsoft Azure gibt es fertige Pakete, da lassen sich Machine Learning-Tools quasi direkt anwenden. Wir wollen auch eine gemeinsame Strategie für das Go-to-Market umsetzen, um unsere Lösungen gemeinsam den Kunden anzubieten.
ACM: Ein Thema ist der digitale Zwilling für die Infrastrukturplanung. Was alles soll der digitale Zwilling abbilden?
Dr. Richard J. Vestner: Es kommt auf den Kontext an. Wir haben digitale Zwillinge für verschiedene Anwendungen. Bleiben wir in der Stadt. Was will die Stadt damit erreichen? Der digitale Zwilling eröffnet ganz neue Möglichkeiten und auch neue Geschäftsmodelle, um mit bislang verdeckten oder versteckten Daten Wertschöpfung zu generieren. Das heißt, die meisten Smart-City-Anwendungen für intelligente Städte haben dafür eben ein 3D-Realitätsmodell und die vernetze Datenumgebung, also ein Connected Data Environment. Darauf aufbauend können dann zum Beispiel Mobilitätsdienste angeboten werden. Es gibt eine relativ neue Umfrage unter den Smart Cities der Welt.
Die Top-Anwendungen sind Mobilität, aber auch Themen wie Wasserver- und entsorgung und Gefahrenwarnung. Es geht aber auch um Sicherheit und Bürgertransparenz. Ein digitaler Zwilling kann das bestens unterstützen, um eine Stadt nachhaltiger und resilienter zu machen. Diesen Lebenszyklusansatz von der ersten Idee, der Konzeption über die Planung bis hin zum Betrieb kann man auch auf den gesamten Infrastruktursektor ausdehnen.
ACM: Können Sie uns bitte ein Beispiel nennen, inwiefern die Planer und Architekten und letztlich auch die Einwohner davon profitieren?
Dr. Richard J. Vestner: Dublin ist auf uns zugekommen, weil die Stadt die Fußball-Europameisterschaft mit uns planen wollte. Dann haben wir der Verschiebung ein anderes sinnvolles Einsatzgebiet gesucht und unser Tool für die Stadtplanung genutzt. Wir hatten dann in kürzester Zeit 160.000 Bürgerbeteiligungen erreicht, also Einwände, Vorschläge oder Kommentare zum neuen Stadtquartier, das gerade geplant wird. Gerade jetzt, wo große öffentliche Versammlungen nicht möglich sind, ist das ein optimales Werkzeug, denn jeder kann sich unkompliziert von zu Hause einen Einblick verschaffen. Und mit unseren digitalen Tools kann man sich viel mehr Szenarien vorstellen.
Transparente Planung für Stadtbewohner
Auf einen Klick ermittelt man die Massen- und Erdbewegungen und man kann den Bürgern schnell erklären, warum und wo, welche Maßnahmen erforderlich sind, was sie kosten, welche Folgen sie haben, und man kann natürlich auch die CO2-Bilanz überschlägig berechnen. Auf diese Weise wird die Planung für Stadtbewohner transparent.
Ein Beispiel: Helsinki hat sich zum Ziel gesetzt, mit digitalen Mitteln, neuen Workflows und Prozessen, Bürgern eine Stunde Zeit am Tag zurückzugeben. Wir digitalisieren so viel wie möglich und leisten durch unsere Plattformen und Applikationen einen großen Beitrag dazu.
ACM: Inwiefern fließen die Erkenntnisse aus der derzeitigen Gesundheitskrise in die Infrastrukturplanung mit ein? Wie sind Ihre Erfahrungen?
Dr. Richard J. Vestner: Wir haben überlegt, was wir unseren Anwendern anbieten können, um aus der aktuellen Pandemie für Planungs- und Entscheidungsprozesse auch einen Nutzen zu ziehen und beispielsweise neue Angebote zu entwickeln. Interessanterweise, und das ist eigentlich die gute Nachricht für unsere Anwender, haben wir gemerkt, dass wir mit unseren Produkten schon sehr gut aufgestellt sind. Mit unseren Applikationen und Prozessmodellen im Stadtumfeld können beispielsweise Fußgänger, Automobile und andere mobile Objekte in der Infrastrukturplanung in ihrem Verhalten simuliert werden, um zum Beispiel das Abstandsgebot einzuhalten.
Interessant ist zu sehen, wie sich bauliche Veränderungen, planerische Veränderungen oder auch Ampelschaltungen auswirken, so dass wir diese Gesundheitskrise besser bewältigen können. Wie lassen wir an Flughäfen die Leute besser in Flugzeuge einsteigen und aussteigen oder wie sehen die Wartebereiche in großen Stationen aus? Hier unterstützen uns BIM-Modelle. Sie können es sich so vorstellen, dass wir das dreidimensional als Asset Twin oder als Produkt-Zwilling darstellen und diesen mit dem Prozess-Zwilling koppeln. Damit sind wir dem echten 4.0-Ansatz schon relativ nahe. Das ist übrigens auch mein Steckenpferd.
ACM: Welche Erwartungen und Hoffnungen haben Sie für das kommende Jahr?
Dr. Richard J. Vestner: Die iTwin-Plattform könnte sich jetzt, gestützt durch unsere Partnerschaft mit Microsoft, zu einem globalen Standard entwickeln. Wir können die verschiedensten Formate – man redet auch oft von Datensilos – miteinander verbinden. Zunehmend wird diese Technologie eingesetzt, um die Daten gemeinsam nutzbar zu machen. Im Hinblick auf die Erstellung digitaler Zwillinge und im Umfeld von Smart Cities (intelligente Städte) erwarte ich schon, dass sich das mit unseren strategischen Partnern und unseren Usern durchsetzt.
Gemeinsam mit ambitionierten Städten wollen wir diesen Standard weiter umsetzen und viele Projekte zum Leben erwecken. Es geht einfach jetzt darum, eine ganz neue Zeitrechnung zu starten. Dabei hilft auch das Plädoyer für BIM und das Prinzip der Offenheit. Und den Paradigmenwechsel hin zu Offenheit und Open Source hat Bentley vollzogen. Unsere iTwin-Plattform ist für jeden auf GitHub erreichbar, so dass auch unsere User vielfältige digitale Zwillinge selber erstellen können.
ACM: Herr Dr. Vestner, vielen Dank für das Gespräch.
Bild: Bentley Systems
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BIM - Building Information Modeling, Digitaler Zwilling, Smart City (intelligente Stadt)