05.07.2023 – Kategorie: Fertigung & Prototyping

Smart Factory: Mehr als nur Prozesse und IT

Smart FactoryQuelle: ipopba/stock.adobe.com

Die Smart Factory verspricht Fertigungsunternehmen beschleunigte, effektivere Prozesse und Flexibilität in der Produktion, gerade im Hinblick auf das derzeit unsichere Geschäftsumfeld. Doch die Einführung entsprechender Lösungen ist kein Spaziergang.

Dr. Jochen Schlick, Senior Partner und Co-Founder der Managementberatung Neonex erklärt im Gespräch mit dem AUTOCAD Magazin, worauf es dabei ankommt und welche Trends sich beim Thema Smart Factory abzeichnen.

Die ideale Smart Factory

Was macht für Sie eine ideale Smart Factory aus und inwiefern profitieren Unternehmen davon?

Dr. Jochen Schlick: Eine Smart Factory ist die ideale Kombination von Mensch, Prozessen und IT. Diese Definition hebt sich von vielen technisch getriebenen Definitionen ab – wird an einem Beispiel aber deutlich: Nur, weil Ihnen Ihre IT die totale Transparenz gibt, ein Planungssystem Ihnen hilft, Eilaufträge durch die Fertigung zu schieben und das Material von AGVs an Maschinen gebracht wird, bedeutet das nicht, dass Ihre Fabrik effizient arbeitet. Dies gelingt nur, wenn Ihre Prozesse derart schlank gestaltet sind, dass es kaum Eilaufträge gibt, Ihre Mitarbeiter nicht täglich neu aufflammende Feuer löschen müssen und Sie Zeit dazu haben, aus der Transparenz heraus besonnen Schlüsse zu ziehen und diese in die kontinuierlichen Verbesserungen der Prozesse umzusetzen.

Wo liegen heute die größten Herausforderungen in der Industrie?

Schlick: Die Herausforderungen lassen sich in zwei Kategorien unterteilen: Umweltfaktoren und Marktfaktoren. Zuerst zu den Umweltfaktoren: Die Industrie erlebt steigende Energiekosten, einen Fachkräftemangel und leidet unter einer veralteten Infrastruktur. Dies sind zumindest die letzten Ausprägungen eines zunehmend unbeständigen, unsicheren, komplexen und eingetrübten Geschäftsumfeldes, mit dem Unternehmen umgehen müssen, um langfristig wettbewerbsfähig zu bleiben.

Im direkten Marktumfeld der Unternehmen steigern instabile Lieferketten, schwankende Kundenbedarfe und mehr Individualisierungswünsche von Kunden die Komplexität. Um diese Komplexität zu meistern und damit eine Resilienz aufzubauen, müssen Unternehmen zunehmend flexibel und agil handeln können.

Grundsätze und Cyber-Sicherheit

Wie lassen sich die damit einhergehenden Aufgaben am besten lösen?

Schlick: Wir verfolgen an dieser Stelle einige simple Grundsätze:

  1. Alles, was automatisiert werden kann, muss automatisiert werden.
  2. Die Herstellung voller Transparenz durch Vernetzung aller Wertschöpfungsstufen.
  3. Das Verständnis der Wertschöpfung als ein System, um eine End-to-End Verbesserung zu erreichen.
  4. Data Analytics als Grundlage (fast) jeder Entscheidung.
  5. Wissensmanagement als Generationenbrücke.
  6. Global Sourcing wird Local Manufacturing.
  7. Agile Produktion für die Erfüllung des Kundenbedarfs.

Natürlich sind diese Grundsätze spätestens auf den zweiten Blick nicht mehr so simpel – sind aber letzten Endes unumgänglich.

Wie können Unternehmen die Smart Factory resilient machen?

Schlick: Cyber-Sicherheit ist ein äußerst komplexes Problem, das man leider nicht mit einfachen Handlungsempfehlungen abhandeln kann. Definitiv ist eines der Haupt-Einfallstore der Mensch selbst. Aber auch die Netzwerktopologien sind ein Thema.

Können Sie uns bitte dafür ein Beispiel nennen?

Schlick: Wie viele Unternehmen nutzen konsequent die 2-Faktor-Authentifizierung, um eine Weitergabe von Passwörtern zu unterbinden? Sind die USB-Ports der Mitarbeiter-Laptops gesperrt? Und sind die Netzwerke der Fertigungsbereiche einer Fabrik von den Büronetzwerken oder denen anderer Fabriken des gleichen Unternehmens getrennt? Man erkennt hier bei vielen Unternehmen oft auf den ersten Blick Security-Schwachstellen und das bei recht trivialen Themen. Zahlreiche Unternehmen haben bei diesen Basics Aufholbedarf.

Smart Factory
Dr. Jochen Schlick, Senior Partner und Co-Founder der Managementberatung Neonex. Bild: Neonex

Welches Vorgehen würden Sie bei Smart-Factory-Lösungen empfehlen?

Schlick: Wir verfolgen hier in der Regel zwei unterschiedliche Ansätze. Für eine ganzheitliche, Transformationen nutzen wir ein 12-Schritte-Modell. Dieses beginnt mit der Inspiration des Managements, gefolgt von der Formulierung von Vision und Zielbild des Programms. Daraus identifizieren wir gemeinsam Potenziale für Verbesserungen im gesamten Wertstrom. Im vierten Schritt wird die IT-Architektur zur Abbildung dieser Use Cases festgelegt. In Schritt fünf werden die Use Cases gerankt und in eine Roadmap gebracht, sodass die Teams für die Umsetzung geformt werden können. In Schritt sieben geht es um die Kommunikation im Unternehmen. Schritt acht, neun und zehn befassen sich mit Use Case-Entwicklung, Lieferantenauswahl und Implementierung. Zuletzt werden die Use Cases stabilisiert und ausgerollt.

Bei Kunden, die kleinere Initiativen umsetzen, nutzen wir unsere kurzzyklische Mini-Step-Transformation. Dieser Ansatz identifiziert einzelne Use Cases, die kleinere Herausforderungen beseitigen und so deutlich schneller umgesetzt werden. Der Impact dieser Lösungen ist weniger ganzheitlich – punktuelle Probleme können aber sinnvoll gelöst werden.

Inwiefern sehen Sie standardisierte Systemarchitekturen als Hilfe an?

Schlick: Falls Sie damit auf die Rami-Architektur anspielen, muss ich Sie enttäuschen. Ich habe in den vergangenen zehn Jahren offen gesagt keine relevante Implementierung für den Operations-Betrieb gesehen. Ich würde sogar sagen, dieser Ansatz ist für den Operations-Bereich vollkommen irrelevant.

Tatsache ist aber, dass es mit den MES-Systemen, die sich mittlerweile oft zu ganzen Plattformen weiterentwickelt haben, eine breite Werkzeugpalette gibt, um rund um die Produktion Prozesse zu digitalisieren. Auch die Schnittstelle zwischen ERP und MES ist durch den Markt recht gut abgedeckt und ebenfalls die Anbindung von Maschinen und die Erfassung der Status-Meldungen ist in den wenigsten Fällen unmöglich. Hinzu kommt, dass es inzwischen auch eine Reihe von Low-Code IIot-Plattformen gibt, mit der Shop-Floor IT-Anwendungen recht schnell ohne Programmier-Dienstleister umgesetzt werden können.

Die Anfänge der Smart Factory und der Status Quo

Vor elf Jahren haben Sie gemeinsam mit einem Forschungsteam die erste Smart Factory in Deutschland aufgebaut. Was hat sich für Sie rückblickend verändert?

Schlick: Wir waren damals sehr von den technischen Ansätzen getrieben und überzeugt davon, dass Quantensprünge in der Produktion von allein kommen, wenn die Technik nur gut genug ist. Dies muss ich heute jedoch relativieren. Der beschränkende Faktor ist der Mensch und seine Beharrlichkeit. Und damit meine ich nicht die Mitarbeiter auf dem Shopfloor, sondern vor allem Experten und Führungskräfte.

Stellen Sie sich ein Unternehmen vor, dass seit 50 Jahren Material mit Staplern transportiert, wegen Papier-Handling eine Totzeit von zwei Tagen hat und diese Defizite mit hohen Beständen in angemieteten Lagerhallen abdeckt. Die Digitalisierung der Transportaufträge und die Abschaffung des Papier-Handlings bietet nun eine Lösung dafür, die Totzeit stark zu reduzieren – bringt aber nichts, wenn die Mitarbeiter den Change nicht umsetzen. Wenn Sie stattdessen eine AGV-Flotte in Verbindung mit einem papierlosen Transportverwaltungssystem einsetzen wollen, würde die Logistik an Bedeutung verlieren. Die Not im Unternehmen muss groß sein, damit der eingesessene Logistikleiter hier an eine konsequente Umsetzung denkt – obwohl ein massives Potenzial zur Bestands- und Reaktionszeitreduzierung und Flexibilitätssteigerung besteht. Außerdem würde die Notwendigkeit zur Planung geringer, externer Lagerhallen aufgelöst und Lieferqualität sowie Kundenzufriedenheit gesteigert werden.

Welche Entwicklung würden Sie sich im Hinblick auf die Smart Factory in den kommenden Jahren wünschen?

Schlick: Wir benötigen in den Fabriken eine KI, die den Führungskräften hilft, Zusammenhänge im Unternehmen und in den Prozessen zu erkennen. Einen Fabrik-Avatar, der ganze Wertstrom-Designs vorschlägt. Dieser könnte beispielsweise klar machen, dass es nicht das Abrufverhalten des Kunden ist, welches die Unruhe in die Fertigung bringt, sondern die Unfähigkeit des Unternehmens, regelmäßiger zu liefern. Und dass der Schlüssel zum Beispiel in Losgrößen und Logistik-Totzeiten begraben liegt.

Unsere heutigen Fabriken sind zu komplex geworden, um sie durch ein paar einfache Kennzahlen zu beschreiben. Die Zusammenhänge und Optimierungshebel sind zu vielfältig und miteinander verwoben. Führungskräfte müssen sich auf die Führung und die kontinuierliche Verbesserung fokussieren können. Für die Problemerkennung brauchen sie eine KI.

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