18.11.2015 – Kategorie: Hardware & IT

Virtuelle Projektierung und Inbetriebnahme reduzieren Zeit und Risiko

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Im Sondermaschinenbau sind die Projektrisiken am größten. Vermindert werden können sie mit einer virtuellen Inbetriebnahme von Maschinen, Anlagen und Roboterapplikationen. Damit hat die Heitec AG die Erstellung und den Test der Automatisierungsprozesse soweit automatisiert, dass sich Aufgaben und Anforderungen von Anfang an besser und genauer spezifizieren lassen. Auch beim Retrofit ergeben sich deutliche Kostenersparnisse. Von Gerhard Stich

Mit dem Konzept der realen Inbetriebnahmen am virtuellen Modell kann man alle gegenwärtigen oder auch künftigen Betriebsabläufe in der entsprechenden Produktionsumgebung und der Anlage in Echtzeit simulieren und mit der Original-Automatisierungssoftware steuern. Auf diese Weise erreicht man eine höhere Auslieferungsqualität der Software für Automatisierungs- und Antriebslösungen. Im Gegensatz zur bisherigen Praxis, die virtuelle Inbetriebnahme erst nach der Planung und dem Engineering einzusetzen und als nachgelagerten, unabhängigen Prozessschritt anzusehen, integriert Heitec die virtuelle Inbetriebnahme von Anfang an in den Workflow. Auf diese Weise können die Prozesse frühzeitig parallelisiert werden, was die Projektlaufzeit weiter verkürzt und die Simulationsergebnisse direkt in den Konstruktionsprozess zurückfließen lässt.
Voraussetzung dafür ist die Verfügbarkeit eines möglichst detailgetreuen mechatronischen Anlagenmodells mit Geometrie (Maße und Gewichte), Kinematik (Momente und Beschleunigungen) und Sensorik sowie eines Verhaltensmodells als Darstellung des Anlagenverhaltens gegenüber der Steuerung. Je genauer die CAD-Daten sind, desto genauer ist auch das virtuelle Modell. Damit verbessern sich nicht nur die zu testende Software-Qualität, sondern auch Prozessdaten wie Taktzeiten, Performance und Flexibilität. Mit dem Verhaltensmodell wird das logische und zeitliche Verhalten der realen Betriebsmittel wie Ventile, Antriebe, usw. simuliert. Im Konzept der realen Inbetriebnahme am virtuellen Modell werden reale Objekte in ihren kommunikativen, sensorischen und verarbeitenden Möglichkeiten beschrieben und in eine virtuelle Umgebung integriert. Dabei wählt Heitec den mechatronischen Ansatz, der Mechanik, Elektrik, Pneumatik/Hydraulik und Software als eine Einheit betrachtet. Charakterisiert werden die mechatronischen Module durch Funktionsbeschreibungen, Schaltpläne, Softwaremodule, Hydraulikpläne usw.

Automatisierter Prozess reduziert Zeit und Fehler

Die Informationen, welche und wie viele Betriebsmittel dann für das Verhaltensmodell einer gesamten Anlage aus der Bibliothek entnommen werden müssen, sind in der Regel in Planungsunterlagen wie beispielsweise Elektro- oder Pneumatik-Plänen hinterlegt. Mit Softwarewerkzeugen, die entsprechende Funktionalitäten bieten, kann dieser Teil der Erstellung des Verhaltensmodells auch automatisiert werden.
Was die reine Geometrie betrifft, existieren heute bereits offene Standards wie STEP und VRML, die einen Datenaustausch zwischen verschiedenen Softwarewerkzeugen ermöglichen. Wenn Durchsätze, Machbarkeiten, Erreichbarkeiten und Taktzeiten nachgewiesen werden sollen, müssen neben der Steuerung auch die Kinematiken des Roboters und der Materialfluss in Echtzeit abgebildet werden. Die geometrischen Daten für den Roboter bekommt Heitec aus den Herstellerangaben und bindet sie über eine Schnittstelle in das kinematische Echtzeitmodell und den Materialfluss ein. Zur Kommunikation der eingesetzten IT-Komponenten mit der Automatisierungsebene entwickelte Heitec ein Machine-to-Machine-Gateway auf Basis des Publishing-Subscribe-Protokolls MQTT. Mit diesem Gateway können Geräte mit unterschiedlichen Kommunikationsprotokollen eingebunden werden, ohne dass diese etwas von der Wirkungsweise des Gesamtsystems wissen müssen.
Zusätzlich dazu entwickelte Heitec Objekte und Subobjekte in Bibliotheken, die die Basis für die Elektro- und Softwarekonstruktion bilden und mit denen virtuelle Modelle erstellt werden können. Dazu wird das CAD-Modell granular in bis zu 700 Blöcke und Funktionsbaugruppen zerlegt, um die Kinematik einer Station präzise abzubilden oder die Sensoren und Aktoren mit einzubinden. „Wir bekommen von unseren Kunden die CAD-Daten und eine grobe Stückliste der Maschine oder Anlage. Wenn die Anlage mit den bei uns in den Bibliotheken vorhandenen Objekten realisierbar ist, dann können wir die Geräte- oder Stückliste des Maschinenbauers interpretieren und einen erheblichen Teil des Engineering-Prozesses automatisiert starten“, erklärt Roman Pieloth, Automatisierungsspezialist bei Heitec.

Inbetriebnahme schon in der ­Entwicklung

Mit dem Parsen einer Makroprogrammierung wird eine intelligente Zuordnungsliste mit den entsprechenden Objektnamen entwickelt, und den Kinematik-Modellen werden symbolische Adressen zugeordnet. Daraus entsteht automatisch der Originalcode, der sich in die Original-Steuerung einspeisen lässt und genau mit diesen Zuordnungen funktioniert. „Das ist keine Code-Generierung, Zeile für Zeile, sondern eine Generierung aus digital gespeichertem Wissen. Wir nutzen die gleichen Methoden für unterschiedlichste Aufgaben und für die gesamte Bandbreite der Anlagen. Bestandteile sind dabei das virtuelle Modell, die automatisierte Generierung von Steuerungs- und Regelungsprojekten sowie der Elektroplanung. Das ist für uns Industrie 4.0, so wie wir sie denken und leben – als Automatisierung der Automatisierung“, sagt Pieloth.
Für die Inbetriebnahme werden die Daten noch mit der Sensorik und Aktorik verknüpft, und die Software wird in Echtzeit im Handbetrieb am Operator-Panel getestet. Der Inbetriebsetzer macht vor dem Rechner genau das, was er auch bei der Inbetriebnahme machen würde: Er testet die Sensor-Aktor-Zuordnungen und automatisiert die Grundstellungsfahrten. Die Bewegungen unterscheiden sich nicht vom Original, denn mit den entsprechenden Materialfluss-Kinematiken sind Roboter und Materialfluss jeweils als Hardware-in-the-Loop mit den Originalprogrammen und den Originalsteuerungen gekoppelt und laufen in Echtzeit. So kann die virtuelle Inbetriebnahme schon stattfinden, auch wenn das Projekt noch auf dem Konstruktionstisch liegt. Mithilfe des virtuellen Engineerings lassen sich Durchlaufzeiten um rund 15 Prozent und Inbetriebsetzungszeiten bis 80 Prozent reduzieren. Bei der Auslegung erstmals gebauter Maschinen summiert sich dies durchaus auf vier bis sechs Wochen weniger Durchlaufzeit.

Retrofit ohne wesentlichen ­Anlagenstillstand

Ihre volle Leistungsstärke erzielt die virtuelle Inbetriebnahme vor allem beim Retrofit oder der Modernisierung von Anlagen, die rund um die Uhr laufen müssen und deren Stillstand viel Geld kostet. Meist zeigt sich der Anlagenverschleiß an immer schlechter werdender Performance, Teilequalität oder Produktivität. Oftmals haben die elektrischen und elektronischen Komponenten technisch ausgedient und Ersatzteile sind aufwändig zu beschaffen. Die mechanischen Komponenten hingegen haben in der Regel noch eine relativ hohe Restlebensdauer. In solchen Fällen ist die Vorgehensweise folgende: Für ein Retrofit analysieren die Spezialisten von Heitec die Anlage vor Ort, nehmen entsprechende Kennlinien auf, vermessen die Anlage mit Laser und erstellen daraus ein virtuelles Modell, an dem die Steuerungssoftware validiert, verbessert und getestet und die Anlage virtuell in Betrieb genommen wird. Dadurch kann die Anlage wesentlich schneller und auf technisch neuestem Stand in Betrieb gehen.
Bei einem Hersteller von Vliesstoffen wurde auf diese Weise die gesamte Elektrik und Elektronik in den Produktionsanlagen ersetzt. Das mittelständische Unternehmen mit 120 Mitarbeitern liefert Vliesstoffe just in time nach individuellem Kundenwunsch in rund 1,4 Millionen Varianten. Bisher mussten Druck, Temperatur und Bahngeschwindigkeit für jede Variante von Hand am Bedienpult eingestellt werden. Fehlermöglichkeiten waren vorprogrammiert, je nachdem, wie schnell und ob die Einstellungen vollständig oder nicht vollständig vorgenommen wurden. Heitec entwickelte auf der Basis des virtuellen Modells ein Produktionsleitsystem, mit dem der Bediener jetzt Kundenprozeduren verwalten, speichern und aktivieren kann. Nun lässt sich auf Knopfdruck das gewünschte Produkt erzeugen. Die Umstellzeiten haben sich um den Faktor 10 reduziert und auch die Ausschussrate ist deutlich geringer.
„Die Herausforderungen waren sportlich. Nach 22 Manntagen Anlagenstillstand war die erste Anlage umgebaut, elektrisch neu verkabelt, das neue Leitsystem installiert und in Betrieb genommen. Geplant waren ursprünglich 46 Manntage“, sagt Pieloth. Wichtig bei diesem Projekt war, dass die gesamte Anlage in einzelne virtuelle Objekte zerlegt und als Software- oder Hardwarefunktion nachgebildet werden konnte. Im Bewegungsmodell wurde eine virtuelle Leitachse definiert, die für eine konstante Liniengeschwindigkeit und synchrone Antriebe sorgt. Anpressdruck und Temperatur wurden anhand der aufgenommenen Kennlinie reguliert. Aufgrund der Testergebnisse im Vorfeld konnte die Anlage sehr schnell in Betrieb genommen werden. „Diese Erfahrungen kamen uns dann beim Retrofit der zweiten Anlage zugute. Mit den entsprechenden elektrischen Vorbereitungen und dem Test am virtuellen Modell wurde die Anlage an einem verlängerten Wochenende von Freitag bis Dienstag umgerüstet“, berichtet Pieloth. „Das Erstellen eines Modells und die virtuelle Inbetriebnahme kosten erst einmal Geld, das der Kunde investieren muss. Aber verglichen mit den Kosten eines Anlagenstillstandes hat sich der Aufwand schnell amortisiert.“  (anm)


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